Umzug

Die Sonne ist fast verschwunden und die schwülwarme Luft schiebt sich unruhig elektrisiert durch die Straße vor der Autovermietung. Ein Sommergewitter kündigt sich an. Ich habe den Iveco Daily XXL Transporter ordentlich auf dem Gehsteig geparkt und jetzt nur noch das Mäppchen und die Schlüssel in den Tresor und dann endlich, ENDLICH aufs Sofa nach diesem langen Umzugstag. Hunderte Dinge von A nach B gewuchtet, tausende Mikroentscheidungen getroffen… Körper und Geist sind lange im Stromsparmodus. Ein letzter Blick in die Mappe der Autovermietung: „Schlüssel, Mappe und Tankbelege in den Tresor legen.“ Tankbelege? Tankbelege… „Äh, wir müssen noch tanken fahren.“ „Oh nee… und wenn wir sagen, wir haben es vergessen?“ fragt Friederike. Ja, das wäre was. Aber ich bin nicht aus diesem Holz geschnitzt. Steuererklärungen müssen gemacht, geliehene Dinge zurückgegeben und Mietautos getankt abgegeben werden… Feigling! …Das Gute obsiegt immer! …Es waren nur 27 Kilometer, die Tankanzeige hat nicht mal gezuckt! …Ich lande im Gefängnis! „Ich gucke mal, wo die nächste Tankstelle ist.“ Die nächste Tankstelle laut Google-Maps stellt sich als Bosch-Service-Center heraus und es folgt ein kompliziertes Wendemanöver mit Heckenkontakt und argwöhnischen Anwohnerblicken. Danke für gar nichts! „Ich weiß, wo eine ist, da fahren wir jetzt hin.“ Die Tankstelle ist hell beleuchtet und es kann nicht mehr lange dauern, bis die Wolken brechen. Diesel, Zapfsäule 3. Der Tankdeckel bewegt sich nicht. Kräftig nach Links. Keine Bewegung. Kräftig nach rechts. Knack! Nichts zu machen. Hä? Ist da vielleicht ein Schlüsselloch? Nee. Vermutlich muss der Laderaum auf sein. Wieder nichts. Ah, sicherlich gibt es einen Knopf. Handytaschenlampe Armaturenbrett. Kein Knopf. Hmm… „Friederike, google doch mal Iveco Daily XXL Tankdeckel öffnen.“ Ich greife mir das überdimensionale Bordbuch, Index T wie Tanken. Kein Eintrag. Hmm… Dann eben so durchblättern. „Hier hat einer das Problem gehabt, aber keine Lösung.“ Kapitel 5: Der Fahrersitz. „Hier war bei einem der Tankdeckel vereist, aber was vereist, es sind ja Tausend Grad.“ Kapitel 7: Der Laderaum. „Okay, das Buch gibt nichts her, ich rufe mal bei der Autovermietung an.“ „Lieber Kunde, leider rufen sie ausserhalb unserer Gesch…“ „Geht keiner ran.“ Ein Gedanke beschleicht mich. Aber kann ich soweit gehen? Ein einfacher Tankdeckel. Nein, soweit werde ich es nicht kommen lassen, sage ich mir, und nehme mir den Tankdeckel nochmal vor. Dieses Mal mit aller verbleibender Kraft, die meine geschundenen Hände noch hergeben. Nichts! „Okay, Friederike, ich rufe mal beim ADAC an.“ Wozu bin ich denn noch Mitglied, obwohl ich seit drei Jahren kein Auto mehr habe? „ADAC Pannenservice, wie kann ich Ihnen helfen?“ „Guten Tag, Dietrich. Es ist mir etwas unangenehm, aber ich habe einen Transporter gemietet und bekomme den Tankdeckel nicht auf. Ich habe schon gegooglet und das Bordbuch gelesen, aber er lässt sich einfach nicht öffnen.“ „Kein Problem wir schicken jemand vorbei.“ „Äh, ich weiß nicht, ob das nötig ist. Ich dachte vielleicht können sie mir weiterhelfen.“ „Die Kollegen kennen sich aus und werden ihnen weiterhelfen. Ein Wagen ist in spätestens einer Stunde bei Ihnen.“ Ein Blitz zuckt über den Himmel und die Wolken brechen. „Okay, alles klar.“ Habe ich gerade eine ADAC-Pannenhilfe bestellt, weil ich einen Tankdeckel nicht aufbekomme? Meine Männlichkeit, die im Laufe des Tages durch Schweiß, intelligentes Einladen und abbeißen von Gaffa-Tape ein neues Rekordhoch erreicht hat, fällt auf die Durchschnittsmarke zurück. Zum Glück müssen wir nicht lange warten und der gelbe Engel stellt sich mit einem Selbstbewusstsein neben uns und blockiert damit die gesamte Mittelspur der Tankstelle, wie es eben nur ein lang gedienter ADAC-Hero an einem Samstag Abend machen kann. Bedächtig steigt er aus, wie John Wayne von seinem Ross und schlendert zu uns herüber. „So, sie haben also ein Problem?“ Er ist einen Kopf kleiner als ich, breite Schultern und Augen, die einem unmissverständlich sagen, dass leichte Plaudereien und Humor nicht seine Kernkompetenzen sind. „Ja, äh, ich bekomme den Tankdeckel nicht auf. Ich habe schon in beide Richtungen gedreht und nichts zu machen. Wir haben dann gegooglet und das Bordbuch gelesen, aber haben es nicht herausgefunden. Es ist mir auch etwas…“ Mit einem lauten „Plopp“ dreht er den Tankdeckel auf. „Oh, ach, so stark haben wir wohl nicht gedreht.“ Er blickt mich zwei Sekunden an. Ich sehe förmlich, wie er sich hinter seinen Augen die Geschichte zurechtlegt und wir ganz oben einen Ehrenplatz erhalten bei den Geschichten, die er dann bei seinen Buddies im Gym erzählt oder auf der nächsten Familienfeier. „Ja, da musste man einfach etwas beherzter zupacken.“ Beherzter zupacken. Ich bin ihm dankbar für diese Formulierung und überrascht über so viel Fingerspitzengefühl. Es gab nicht viel, was man in dieser Situation hätte sagen können, um sein gegenüber nicht völlig bloßzustellen. Ich nicke nur, aber Friederike hält es nicht aus: „Oh Gott, das ist so peinlich!“ „Ach, das macht gar nichts.“ Wieder gut aufgefangen! Ob die ADAC-Mitarbeiter darin geschult werden, Leute nicht bloßzustellen, wenn sie Ihnen im übertragenden Sinne die Schnürsenkel zubinden (oder den Tankdeckel aufdrehen)? Seelenruhig schlendert er zu seinem Auto zurück und stellt mir eine Quittung aus. „Kunde konnte Tankdeckel nicht öffnen. Tankdeckel ließ sich problemlos öffnen.“ Fair enough. Er möchte noch meine Mitgliedskarte sehen und ich überreiche ihm meine goldene ADAC-Plus Karte. War da ein ganz leichtes zucken in seinem Mundwinkel? Er rauscht davon und Friederike tankt. Es passen 0,98Liter Diesel rein für 1,23 Euro. Wir kaufen uns jeder ein Eis an der Tanke und bemerken erst hinterher, dass die auch auf dem Tankbeleg auftauchen. Seis drum. Der Regen hat aufgehört und wir stehen mit unserem Eis in der herrlich frischen Sommernacht. Eine Familie wartet auf ihr Auto in der Waschanlage und mir fällt beim Abbeißen ein großes Stück des Schokoladenüberzugs runter auf meinen Schuh. Unter uns die Erde über uns der Nachthimmel rasen wir durchs Universum. Alles ist gut.

Hannover im Juni 2020